“Feminisierung“ der Justiz – Über den Streit zweier Gleichheitsbegriffe

Friederike Bahl

Die Diversifizierung der Richterschaft[1] wird als eine der größten Herausforderungen für die Justiz angesehen (Rackley 2013). Zu den meist diskutierten Aspekten zählt dabei das Verhältnis von Männern und Frauen im Richteramt. Über die vergangenen drei Jahrzehnte hat die Zahl der weiblichen Richter weltweit deutlich zugenommen. Dennoch hat die Diskussion um eine gendersensible Zusammensetzung der Richterprofession auch nach dem erfolgreichen Eintritt von Frauen in die Rechtspraxis nicht nachgelassen.

Das liegt zunächst daran, dass die Diagnose einer umfassenden Etablierung weiblicher Richter einer empirischen Korrektur bedarf: ihre steigende Zahl ist keineswegs auf alle Rechtsthemen gleich verteilt. So sind Frauen etwa im Verwaltungs- und Finanzrecht vergleichsweise unter-, im Familien- und Sozialrecht hingegen überrepräsentiert (Bundesjustizamt 2022a). Ähnliches gilt für die unterschiedlichen Gerichtsebenen, wenn vergleichende Befunde zur Verteilung von männlichen und weiblichen Justizjuristen zeigen, dass letztere bis heute überdurchschnittlich häufig auf den unteren Hierarchiestufen verbleiben (Bundesjustizamt 2022b). Die anhaltende Debatte um eine Diversifizierung der Richterschaft ist daher zunächst im Zusammenhang einer Reihe sozialer Schließungsprozesse in den juristischen Professionen zu betrachten, die eine umfassende Durchmischung relativieren und eher auf eine Verschiebung sozialer Ungleichheit am Arbeitsmarkt hinweisen (Wetterer 2000).

Allerdings ruft die debattierte Frage nach der Notwendigkeit einer systematischen Diversifizierung der Richterschaft noch einen zweiten Streitpunkt auf, der bislang eher im Schatten bisheriger Beschreibungen mitläuft, als dass er offen in der Forschung thematisiert wird: was bedeutet eine Diversifizierung der Richterschaft für die Bedingungen der Möglichkeit einer objektiven Entscheidung?

In der Diskussion um die Judikative wird die Objektivitätsbehauptung des Rechts zu den zentralen Entstehungsbedingungen richterlicher Autorität gezählt (Brodocz 2009, S. 123). Danach beansprucht jede Gerichtsentscheidung, dass sie von den Personen, die aktuell das Richteramt bekleiden, unabhängig ist.

Im Namen des Volkes

Ähnlich zu Parlamenten beanspruchen Richter:innen ihre Urteile nicht für sich zu fällen, sondern ihre Entscheidungen als Repräsentanten aller Mitglieder einer politischen Gemeinschaft zu fällen. Seit der Französischen Revolution wird „das Volk“ als der letzte Grund politischer Souveränität und rechtlicher Legitimierung aufgefasst (Neubauer/Stange/Resske/Doktor 2021).

Wer im Namen des Volkes spricht, beansprucht für sich, den ‚Volkswillen‘ zu kennen und in seinen Entscheidungen in die Tat umzusetzen. Rechtsförmige Gerechtigkeit legt vor diesem Hintergrund nicht nur ein Verfahren nahe, in dem jede Partei, die vor Gericht tritt, gleichermaßen gehört wird. Der Eintritt ins Recht verlangt auch die Unterwerfung beider Seiten unter die Urteilsmacht eines Dritten, der keine weitere Partei, sondern kategorial un-parteiisch ist, insofern und soweit er im Namen der Gleichheit aller Bürger:innen urteilt (Menke 2012, S. 23f.).

Für diese Objektivitätsbehauptung stellt die Frage nach einer systematischen Diversifizierung in der Besetzung von Richterämtern eine Herausforderung in der Frage bereit, ob es überhaupt so etwas wie eine objektive Entscheidung geben kann oder es in pluralisierten Gesellschaften nicht eher darum gehen muss, die vielgestaltige soziale Zusammensetzung der Gemeinschaft auch in der richterlichen Entscheidungspraxis zu repräsentieren.

Anders als man vielleicht vermuten könnte, sind die in der Debatte angebotenen Antworten auf diese Frage keineswegs einheitlich. Der Streitpunkt liegt dabei weniger in der Verhandlung des Für und Wider einer Diversifizierung selbst. Dass eine divers zusammengesetzte Richterschaft ein Kriterium der Qualitätssicherung sein kann, wird von den Debattierenden weitgehend geteilt (Wagner 2017).

Unter dem vielzitierten Titel einer „Feminisierung der Justiz“ variieren die Positionen stattdessen entlang des Widerstreits zweier Gleichheitsbegriffe, mit denen eine solche Durchmischung von weiblichen und männlichen Richtern für die Objektivitätsbehauptung des Rechts ganz unterschiedliche Konsequenzen nach sich zieht.

Repräsentierte Neutralität – oder von der Betonung beruflicher Chancengleichheit

Der erste Gleichheitsbegriff folgt hinsichtlich der Frage nach der Notwendigkeit der Diversifizierung der Richterschaft durch weibliche Richter einem Ideal der Unvoreingenommenheit. Für die Vertreter:innen dieser Position hat die Berücksichtigung von Frauen bei der Besetzung von Richterstellen keinerlei Einfluss auf die Realisierungschancen einer unparteiischen Entscheidungsfindung, sondern ist eine Bedingung ihrer persönlichen Chancengleichheit beim Zugang zu einer professionellen Karriere (Malleson 2003).

Die Arbeit von Richter:innen verstehen die Autor:innen als die Bekleidung eines Amtes, bei dem die Individualität aller Amtsträger:innen unter der Neutralität der richterlichen Robe verdeckt wird. Geschlechterdifferenzen, auch im Sinne sozialisierter Unterschiede, werden für richterliche Entscheidungen als irrelevant angenommen (Kenney 2013). Weibliche und männliche Richter gelten entweder gleichermaßen als „asexual beings“ (Junqueira 2013, S. 446) oder es wird angenommen, dass beide im Angesicht eines Ideals der Sachlichkeit (kritisch: Maroney 2011) vor der Aufgabe stehen, etwaige Differenzen ihrer professionellen Rolle des Richteramts unterzuordnen.

Die für die Rechtsprechungspraxis relevante Frage besteht für die Autor:innen eher darin, wie und in welchem Ausmaß die Rechtsausbildung die richterliche Unvoreingenommenheit darüber absichert, dass die Gefühle von weiblichen wie männlichen Nachwuchsrichtern gleichermaßen durch exaktes, objektives und logisches Denken begleitet und kontrolliert werden.

Repräsentierte Vielfalt – Die Gleichheit der Differenz

Anders verhält es sich bei der zweiten Position: Während Diversität in der personellen Zusammensetzung der Richterschaft im ersten Falle als eine Bedingung beruflicher Chancengleichheit angesehen wird, die die Gleichheit beider Geschlechter in einem modernen Professionalismus betont, wird eine solche Durchmischung im zweiten Fall geradezu mit dem Hinweis auf die Differenz zwischen beiden Geschlechtern begründet.

Anstatt auf eine genderneutrale Rechtsprechung zu setzen, sehen die Vertreter:innen in der Diversifizierung der Richterschaft eher die Chance, die Legitimität der Judikative durch Viel‑Parteilichkeit zu erhöhen. Weiblichen Richtern werden nicht nur vermeintlich typisch weibliche Qualitäten und Kompetenzen wie Empathie und Toleranz zugeschrieben, das heißt Qualitäten, die dem Bild von neutralen Richtern geradezu entgegengesetzt sind (Röwekamp 2013). Diese und andere Kompetenzen werden auch im Dienste der Qualitätssicherung von Rechtsprechung zelebriert (McRae 1996, S. 9; (Goldman 1979, S. 494; McGlynn 1998, S. 187; Grant/Smith 1991, S. 73) – sei es bei der Beurteilung von Zeugenaussagen, der Verhandlungsführung gegenüber Angeklagten oder die Neuperspektivierung gesellschaftspolitischer Themenstellungen wie dem Schwangerschaftsabbruch.

Wie weiter – über reflexive Zwischenpositionen

Die beiden vorangehenden Standpunkte stehen sich bislang recht unversöhnlich gegenüber. Allerdings machen sich auch konzeptuelle Zwischenpositionen bemerkbar, die vielversprechende neue Forschungsanschlüsse eröffnen können (Schultz 2013). Sie vermitteln zwischen beiden, ohne einer Seite zuzuneigen.

Mit dem Ideal der repräsentierten Vielfalt teilen sie die Annahme, dass es sich bei gender um eine zentrale Einflussgröße handelt, wenn es um die Qualität von Rechtsprechung geht. Jedoch wird damit kein entweder-oder im Sinne eines „Richterinnen entscheiden so und Richter entscheiden anders“ angenommen. Die Sensibilität für feministische Fragestellungen etwa lässt sich demnach nicht als ein automatisches Resultat der Anzahl an Richterinnen in einem Gericht annehmen. Vielmehr geht es ihnen darum anzuerkennen, dass richterliche Entscheidungen nicht in einem neutralen Raum stattfinden, sondern sozial und politisch bedingt sind.

Die zunehmende Reichweite von Debatten über Diversität seit der Jahrtausendwende hat Ansätzen den Vorzug gegeben, die gegenüber Kategorisierungen wie Klasse, Ethnie oder Geschlecht Momente der Individualisierung und Subjektivierung in sozialen Praktiken und Selbstverständnissen hervorheben (Schultz/Shaw 2013, S. 29f.). Gender markiert dann weder einen essentiellen Unterschied, noch beansprucht der Begriff die Beschreibung einer exklusiven Einflussgröße. Stattdessen handelt es sich um einen Faktor unter anderen, an dem die Interpretationsnotwendigkeit und Offenheit des Gesetzes und damit die Kontingenz richterlicher Urteile (Hunter/Mc Glynn/Rackley 2010) sichtbar wird.

Mit dem Ideal der repräsentierten Neutralität wird wiederum die Annahme geteilt, dass eine diverse Zusammensetzung der Richterschaft allein unzureichend ist, sondern darüber hinaus Reflexionspraktiken zu möglichen Einflussfaktoren auf das eigene Urteil organisatorisch gewährleistet werden müssen.

Gleichzeitig nehmen die Vertreter:innen der Zwischenpositionen erstens Abstand von der Vorstellung, dass durch eine solche Reflexion Objektivität erreicht werden kann. Eher streben sie an, die Besonderheiten des eigenen Standpunkts in Relation zu alternativen Perspektiven zu sehen. Statt Objektivität im strengen Sinne (als Wahrheitskriterium) geht es also eher um eine Praxis der Intersubjektivität (in Form von Richtigkeitsansprüchen im Raum der Gründe).

Zweitens hegen sie Zweifel daran, dass diese Reflexivität als ein einmal erreichter Status gefasst werden kann, der auf die juristische Ausbildung im Vorfeld des Amtsantritts beschränkt bleibt. Demgegenüber fassen sie Diversität eher als einen Prozess auf und diskutieren auch nach Berufseintritt die Chancen wiederkehrender Trainingseinheiten. Die präsentierten Vorschläge reichen von der grundsätzlichen Frage, ob die juristische Aus- und Fortbildung Reflexionsmöglichkeiten wie gender training einbeziehen sollte (Schultz/Shaw 2013, S. 29f.), über die Beschreibung diverser Reflexionskompetenzen (Hertz 2013) und -praktiken (Ludewig/Lallave 2013)[2] bis hin zur Sondierung bereits existierender Reflexionsformate[3], die sich als best practice Beispiele zur Nachahmung anbieten.

Nimmt man die vorangehenden Überlegungen zusammen, dann wird ein Verständnis von richterlicher Autorität qua Objektivität zwar nicht unbedingt aufgehoben. Dennoch fordert der Widerstreit der angebotenen Positionen dazu auf, seine Bedeutung zwischen Ideal und Praxis zu prüfen.

Dass das Thema der Diversifizierung der Richterschaft für zukünftige Forschung dabei interessante Perspektiven bereitstellen kann, wird nicht zuletzt an einer Problemstellung erkennbar, die im Nachdenken über das angemessene Verhältnis weiblicher und männlicher Richter weitgehend unbearbeitet bleibt: Jede Lesart von Diversität muss letzten Endes auf die Herausforderung antworten, dass zwar die Richterschaft als Ganzes divers sein kann, jedoch kein:e einzelne:r Richter:in. Während sich in einem Kollegialspruchkörper noch eine wechselseitige Korrekturfunktion in den verhandelten Rechtsfällen imaginieren lässt, bleibt spätestens beim Trend zum Einzelrichter die Frage offen, wie Diversität in der konkreten Entscheidungspraxis organisatorisch zu gewährleisten ist.

Zur Person:

Friederike Bahl ist Soziologin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Sie forscht und lehrt zum Wandel der Arbeitswelt und soziologischen Rechtstheorien.

Ausgewählte Publikationen: Lebensmodelle in der Dienstleistungsgesellschaft, Hamburg: Hamburger Edition, 2014, Autorität im Richteramt und die „Feminisierung“ der Justiz, in: Frankfurt am Main/New York: Campus, 2018

Eine längere Version des Blog-Beitrags ist zu lesen in:

Bahl, F.: Autorität im Richteramt und die „Feminisierung“ der Justiz, in: Landweer, Hilge/Newmark, Catherine: Wie männlich ist Autorität?: feministische Kritik und Aneignung, Frankfurt am Main/New York: Campus 2018, S. 125-152.

Literatur:

Angehrn, E./R. Ludewig (2007): Erleben und verarbeiten Richterinnen Moraldilemmata anders als Richter? Literatur- und Interviewanalyse, in: R. Ludewig/K. Weislehner/E. Angehrn (Hg.): Zwischen Recht und Gerechtigkeit: Richterinnen im Spiegel der Zeit, Bern, S. 133-160.

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Bundesjustizamt (2022a): Richterstatistik 2020: 14. januar 2022. Online verfügbar unter: https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Personal/Personal_node.html?msclkid=85ac5fbacfa411eca86704d9f9331145

Bundesjustizamt (2022b): Personalbestand bei den Gerichten und Staatsanwaltschaften, Personalbestand AG, LG, OLG, BGH). Online verfügbar unter: https://www.bundesjustizamt.de/DE/Themen/Buergerdienste/Justizstatistik/Personal/Personal_node.html?msclkid=6f3db785cfa911ecb109e13c65b61c81

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[1] Hier ist das generische Maskulinum gemeint und wird im Folgenden so verwendet. Wenn explizit auf den Aspekt des Geschlechts abgehoben wird, wird die Form „männliche“ und „weibliche Richter“ verwendet. Ansonsten gilt die Form „Richter:innen“.

[2] Ludewig und Lallave diskutieren etwa, inwieweit Richterinnen häufiger Mediation in Erwägung ziehen beziehungsweise ihre Kollegen oder auch ihre Familie für die Diskussion von Fällen aufsuchen.

[3] Dazu zählen Formate des routinierten reviews von Gerichtsurteilen wie sie beispielsweise am International Criminal Court (ICC) praktiziert werden. Hier wird durch die Fraueninitiative für Gender Justice jährlich als Teil des Gender Report Card ein routine gender review von gerichtlichen Schlüsselentscheidungen durchgeführt.